Das Ich wird gesucht.

Ich bin mir abhanden gekommen

Genauer gesagt, mein Ich hat es nie gegeben. Ich fand Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle, Sinneseindrücke und Bewusstsein. Und mein Ich…ein weiterer Gedanke.

 

Ich-Gefangene mit Freigang plant Ausbruch

An der Ostsee hatte ich wieder eine Geschmacksprobe der endgültigen Freiheit genossen. Du findest den Bericht auf meiner Facebook-Seite .

Kurz vorher hatte ich erkannt, dass mein Körper, meine Gefühle und meine Gedanken nicht mir gehören.  Ich hatte ja keinerlei Einfluss auf sie. Trotzdem fühlte es sich so an als hätte ich ein Ich.

Und plötzlich hatte ich es satt. Ich hatte es satt immer wieder in mein Ich-Gefängnis zurückzukehren, zu suchen und immer nur für kurze Zeit frei zu sein. Meine Erkrankung gab mir noch einen zusätzlichen Schubs. Wie lange wollte ich noch suchen?

Ich wollte nicht mehr suchen. Ich wollte finden.

 

Ausbruchswerkzeug

Ein „Zufall“ half mir weiter. In meiner Timeline tauchte ein Blog auf, auf dem ich einen Link zu der Seite „Liberation Unleashed“ fand.

Das ist eine Seite, auf der man mit Hilfe eines Gesprächspartners (Guide) in schriftlichem Austausch seinem Ich – oder besser Nicht-Ich auf die Sprünge kommt. Die Methode nennt sich Direct Pointing. Das Einzige, was zählt, ist die direkte Erfahrung.

Ich las mir einige der deutschen Dialoge durch, die Suchende mit einem „Guide“ führten, der das Nicht-Selbst erkannt hatte. Da waren sie wieder, die unverständlichen Zen-Sätze über das Nicht-Selbst. Wenn der Suchende sagte, er sehe, dass er kein Ich habe, wurden ihm Fragen dazu gestellt. Und er konnte sie beantworten, ohne dass ich die Antworten nachvollziehen konnte.

Den Suchenden wurden auch während der Suche Fragen gestellt. Es ging darum, das Ich genau zu untersuchen, sich dem Ich an die Fersen zu heften und herauszufinden, woraus es wirklich bestand. Gibt es das Ich wirklich? Wo kann man es finden? Woraus besteht es. Welche Form hat es?

Spannende Fragen. Ich kaufte mir das Buch „The Gateless Gatecrashers“ mit etlichen Gesprächsprotokollen und begann es zu lesen und mir selbst diese Fragen zu stellen.

 

Was ist mein Ich?

Gedanken an mein Ich lösten bei mir eine spezielles Gefühl aus, fast einen Geschmack meines Ichs. Das war ich, dazu sagte ich „Ich“. Ich hatte bestimmte Eigenschaften, auf die ich stolz war und andere, die ich versuchte zu ändern. Meine Identität hatte viele Bestandteile. Meine abgeschlossene berufliche Laufbahn. Meine Musik. Meine Partnerschaft. Mein buddhistischer Weg. Meine Nomadennatur.

Ich forschte näher. Und plötzlich stieg Angst auf. Angst, dieses Ich zu verlieren. Würde ich das alles verlieren? Wäre ich noch in der Lage, mein Leben einigermaßen geordnet zu führen? Oder würde das Chaos ausbrechen? Mein Ich steuerte doch mein Leben!

Zu Beginn unserer Beziehung hatte meine Partnerin gefürchtet, sie könne mich an ein buddhistisches Kloster verlieren. Verlor sie mich jetzt an die Wahrheit? Würde ich die Beziehung ohne Ich fortsetzen wollen? Eine Trennung wollte ich ihr nicht antun. Und doch – mein Leben hat schon so oft eine unerwartete Wendung genommen. Ich hatte keine Ahnung, was auf mich zukam. Wie fühlt man sich, wenn man das Nicht-Ich realisiert?

Ich betrachtete alle Bedenken und Ängste. Und mir wurde klar: Die Wahrheit war mir wichtiger als alles. Es gab für mich nichts, was über der Wahrheit stand.

 

Als Detektiv auf der Suche nach dem Ich

Und so folgte ich mich meinem Ich-Gefühl auf Schritt und Tritt. Jedesmal, wenn das Ich-Gefühl auftauchte, zerlegte ich die Erfahrung.

Ich war ärgerlich, ich hatte Angst, ich freute mich. Wenn ich genau hinsah, war ein Gedanke oder eine Sinneswahrnehmung als erstes da gewesen. Dann nahm ich Ärger, Angst oder Freude war. Und zu alldem sagte ich: „Ich ärgere mich“. – „Ich habe Angst.“ – „Ich freue mich“.

Wo kam dieses Ich her? Mehrere Tage analysierte ich soviele Erfahrungen wie möglich, jedesmal mit dem gleichen Ergebnis. Ein Ich tauchte nicht auf. In meinem Körper fand ich es auch nicht.

Beim Bügeln kam ich gegen das heiße Bügeleisen und verbrannte mich. Ich nahm wahr: stechender Schmerz, Hand fährt zurück. Ganz offensichtlich hatte mein Körper diese Reaktion selbständig durchgeführt. Das war auch nur gut so, „ich“ wäre bestimmt viel zu langsam gewesen.

Gab es denn ein Ich, dass dies alles wahrnahm? Ich suchte und suchte, konnte es aber nicht finden. Da war Wahrnehmung eines Gedanken, eines Gefühls oder eines Sinneseindruckes. Aber niemand, der das alles wahrnahm. Ich nahm die Dinge wahr, weil ich bei Bewußtsein war. Während der Operation war ich ohne Bewusstsein gewesen und hatte nichts von der Operation gemerkt.

Obwohl es sich so anfühlte, als ob ein Ich alles wahrnimmt, fand ich kein Ich hinter der Wahrnehmung.

 

Tisch, Schule, Weihnachtsmann

Diese Wörter bezeichnen unterschiedlich reale Dinge. Ein Tisch ist das realste von ihnen.

Die Schule ist schon weniger real. Ist damit das Gebäude genannt, die Lehrer, die Unterrichtsstunden, die Schüler? Alles zusammen wird mit dem abstrakten Begriff Schule bezeichnet.

Der Weihnachtsmann….gibt es ihn? Solange ich an ihn geglaubt habe, gab es ihn für mich und das Wort bezeichnete etwas Reales. Irgendwann bin ich mit meiner Schwester dahinter gekommen, dass unsere Verwandten den Weihnachtsmann spielten. Danach habe ich natürlich nie wieder daran geglaubt, du wahrscheinlich auch nicht. Der Weihnachtsmann ist ein Wort für etwas, was es nicht gibt.

 

Das Ich – ein weiterer Gedanke

Es war die Bezeichnung für die Summe aller meiner Sinneserfahrungen und Gedanken und die dadurch ausgelösten Gefühle und Gedanken.

Wie ein Sportreporter benennen die Gedanken  ununterbrochen die Erfahrungen. Und genau wie der Sportreporter hinken sie immer etwas hinterher.

Die Summe all dieser Erfahrungen nennen die Gedanken „Ich“. Eine Bezeichnung für etwas, was es in Wirklichkeit gar nicht gibt.

Das „Ich“ ist ein Gedanke mit viralen Fähigkeiten. Der Gedanke „Ich“ heftet sich an alle Wahrnehmungen und machte aus einer Wahrnehmung „meine Wahrnehmung“, aus einer Freude „meine Freude“, aus einem Ärger „meinen Ärger“.

 

Durchschreiten des Torlosen Tores

„Das Torlose Tor“, auf Englisch „The Gateless Gate“, ist ein berühmter Zen-Begriff. Es ist das Tor, das die Suchenden durchschreiten müssen, um zu erwachen.

Als ich das vierte Gespräch im Buch „The Gateless Gatecrashers“ las, ging ich durch das Tor.

An einer Stelle sagt Elena (Guide) zu Jamie (Suchende):

„Gibt es in der Wirklichkeit ein „Du“ in irgendeiner Form oder Gestalt?“

Ich dachte bei mir: „Natürlich nicht. Was für eine dumme Frage! Es ist einfach eine Bezeichnung für die Summe aller meiner Wahrnehmungen“.

In diesem Augenblick sah ich es direkt: Es gibt gar kein Ich. Es hatte noch nie ein Ich gegeben.

Es gab gar kein Tor! Deshalb das „torlose Tor“.

 

Jenseits des Torlosen Tores

Mein Herz machte einen Freudensprung. Da war es endlich!

Fühlte ich mich nun erleuchtet? In Glückseligkeit gebadet? Etwas Besonderes? Eins mit allem? Erfüllt von liebender Güte?

Nichts von alledem. Ich fühlte mich einfach nur dumm. Sehr dumm.

Wie konnte ich nur so viele Jahrzehnte eine so einfache Tatsache NICHT sehen? Mich abstrampeln, spirituelle Mount Everests erklimmen, nach dem schönen Gipfelerlebnis und der Erfahrung des Nicht-Ich immer wieder in mein Alltags-Ich zurückzukehren.

Überall hatte ich nach etwas gesucht, was es gar nicht gab. Da konnte man sich doch nur an den Kopf fassen!

Und was hatte sich nun verändert? Genau wie wenige Augenblicke zuvor ratterten meine Gedanken, fühlte ich mich gerade ziemlich dumm, hatte ich Wünsche und Abneigungen…alles war genau wie vorher.

Eigentlich ist das auch klar. Das Ich hatte es ja nie gegeben, ich hatte lediglich an den Weihnachtsmann geglaubt. Was hat sich geändert, als du herausgefunden hast, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt?

Und doch ist alles anders. Mein Lenkrad ist abgefallen. Denn ich kann nicht mehr denken, dass ich habe etwas in der Hand habe, mein Leben lenke. Das war sowieso nie so gewesen, es war eine weitere Illusion.

Und obwohl ich sonst eher der Kontrollfreak bin, habe ich keine Angst. Ich empfinde eine ruhige Sicherheit.

Ach, übrigens, das Wort „ich“ benutze ich weiter. Ich fühle steht für: in mir wird dieses Gefühl wahrgenommen. Aber wie hört sich das denn an?! Das ist das Problem mit unserer Sprache. Sie bestätigt in jedem Satz das Ich-Gefühl.

Wie es weitergeht? Wer weiß?

 

Bild:  Stockfoto-ID: 73129960 Copyright: Andrey_Kuzmin

12 Gedanken zu „Ich bin mir abhanden gekommen

  1. Liebe Christiane,
    aktuell beschäftige ich mich auch mit Fragen rund um das „Ich“, von daher finde ich Deine Überlegungen doppelt interessant!
    Ich habe den Eindruck, das „Ich“ ist unsere Möglichkeit sich abzugrenzen. Ohne „Ich“ würden wir grenzenlos sein, zerfließen, im Gegenüber aufgehen.
    Ob es das „Ich“ wirklich nicht gibt?
    Ich halte für möglich was Du schreibst, auch auch für nicht-möglich.
    Vielleicht ist es so wie mit einem Haufen von Steinen: legt man sie in bestimmter Form zusammen und verbindet sie, wird es ein Haus. Nimmt man bestimmte Gedanken/Gefühle/Erinnerungen zusammen, wird es ein „Ich“. Ebenso auflösbar, wie man das Haus auch wieder in seine ursprünglichen Steine zurückverwandeln kann.

  2. Liebe Christiane,
    das hast du wunderschön beschrieben „Das Ich ist aus Steinen, die man wie zu einem Haus zusammenfügen kann und wieder in seine ursprüngliche Form zurückverwandeln – nämlich in einen Haufen Steine.

    Das Ich schafft Grenzen, ganz genau! „Ich bin du“ ist eine zentrale Erfahrung ohne Ich. Das ist aber kein psychotisches Zerfließen, sondern ein Alleinssein, bei dem ich immer voller liebender Freude bin. Allerdings bin ich jetzt nicht dauernd in diesem Zustand, obwohl ich es mir wünschen würde.

    Welche Steine bauen das Ich? Das kannst du herausfinden, indem du ganz genau beobachtest, was in dir abläuft, wenn du „Ich“ fühlst.

    Aber Achtung: Wenn das Ich einmal abgebaut ist, kann es nicht mehr aufgebaut werden. Es ist genauso unmöglich wie wieder an den Weihnachtsmann zu glauben.

    Ein neues Leben beginnt, ohne Ich. Aufregend!

    Herzliche Grüße, :-)
    Christiane

  3. Liebe Christiane,
    wenn es eigentlich eine positive Angelegenheit ist das „Ich“ aufgegeben zu haben, warum ist dann die mangelnde Fähigkeit sich genügend abgrenzen zu können (Ich -Schwäche) so negativ?( Ich meine das jetzt auch nicht psychotisch.)
    Aber sich nicht abgrenzen zu können führt dazu besser manipuliert zu werden, führt dazu nicht „nein“ sagen zu können usw. Alles keine guten Dinge….
    Wie kann man eigentlich etwas wahrnehmen, sich merken, sich erinnern, wenn kein „Ich“ dabei ist?
    *grübelgrübel*

  4. Liebe Christiane,

    wichtige Fragen!

    Mit der Abgrenzungsfähigkeit habe ich eine interessante Erfahrung gemacht:
    Wir hatten zu Hause eine kleine Auseinandersetzung. Ich habe nach innen gefühlt und konnte nichts Verkehrtes an meinem Standpunkt entdecken. Da kein Ich da ist, das sich fürchtet, nicht mehr geliebt zu werden, konnte ich meine Sicht völlig ruhig vertreten und der kleine Streit war schnell zu Ende.

    Das Ich ist die Ursache der „Ich-Schwäche“, da es Angst hat, nicht geliebt, abgelehnt, verspottet oder sonstwie gekränkt zu werden.

    Was die Erinnerung angeht – wer merkt sich eigentlich etwas? Du, ich? Warum vergesse ich etwas wieder, obwohl „ich“ es mir doch gemerkt habe?

    Das Merken oder Nicht-Merken hat mit einem Ich nichts zu tun. Es passiert im Gehirn unter dem Einfluss von Gedanken und Gefühlen.

    Ich kann mir Dinge immer noch gleich gut oder schlecht merken wie vorher. Warum auch nicht? Das Ich hat es ja nie gegeben, genauso wie den Weihnachtsmann. Am Gedächtnis ändert sich nichts, wenn man das erkennt.

    Danke für deine tollen Fragen!
    Christiane

  5. Liebe Christiane,
    vielen Dank für die Erklärungen! Ist sehr schön darüber mit Dir diskutieren zu können! :-)
    Jetzt muß ich erstmal in Ruhe nachdenken *wink*
    Christiane

  6. Liebe Christiane,

    vielen Dank für diesen höchst interessanten Beitrag.

    Seit frühester Jugend haben mich Berichte über Zen schon fasziniert, vor allem diese „seltsamen“ Koans. Daran mußte ich mich auch erinnern, als einmal ein sogenannter Buddhist berichtete, wie er zum Christentum bekehrt wurde: Jemand hatte einfach zu ihm gesagt „Jesus liebt dich“.

    Genauso fassungslos lese ich jetzt die Zeilen über den Durchbruch beim Lesen der Frage „Gibt es in der Wirklichkeit ein „Du“ in irgendeiner Form oder Gestalt?“

    Wie oft grübelte ich schon über genau diese Frage – aber leider immer ohne derartige Folgen.

    Andererseits frage ich mich, warum wir eigentlich immer auf diesem Ich herumhacken? Verstehen wir darunter wirklich das gleiche wie seinerzeit Buddha? Warum sagt er bei jeder Gelegenheit „Das bin ich nicht, das gehört mir nicht, das ist nicht mein Selbst“, wo es doch wesentlich einfacher und für alle eindeutig wäre, wenn er sagen würde „es gibt gar kein Ich/Selbst“?

    Schaut leider so aus, als ob mir (Ich? oder Anton oder wem eigentlich?) das Weiterdenken nicht erspart bleiben würde.

    Liebe Grüße

  7. Lieber Anton,
    ja, die Frage nach dem Ich ist wie ein Koan. Und wie ein Koan ist sie nicht mit dem Verstand zu lösen.

    Es hilft nur das genaue Nachschauen in der eigenen Erfahrung. Genau hinzusehen und sehr ehrlich zu sein. Was findest du, wenn du genau hinschaust? Was nimmst du wirklich wahr? Es gibt Sinneswahrnehmungen, Gedanken, Gefühle. Findest du ein Ich?

    Schau genau hin!

    Ich wünsche dir, dass du findest,
    Christiane

  8. Meine Erkenntnis ist das ich ein Ich gesucht habe wissend das ich kein ich habe das als ich bezeichnet werden konnte. Ich war auf der Suche nach diesem Ich das doch so viele Menschen, so unbeschreibbar viele, haben müssen. Es war die Suche nach einer Illusion, die Suche nach dem Ich im anderen das nie gefunden wurde und das der der behauptet Ich zu sein nicht erkannte das er nicht Ich ist. Wie es kein Du gibt gibt es auch kein Ich. Nur wer will das wissen wenn die überwiegende Mehrheit weiß das sie Ich sind? Da kommt dann ein Helmut der weiß das er kein Helmut ist doch als Helmut identifiziert wird, der sich nicht mit Helmut identifiziert. Der sich auch nur so lange mir Worten identifiziert wie sie wandelbar sind. Wie Helmut das in nächster Zeit lies weiß ich nicht doch sicher ist das es nicht so verstanden wird wie es jetzt geschrieben ist. -()-

  9. Ist es nicht eher so, das weder ein, noch kein Ich existiert bzw sein kann? Das ich zu negieren, zu verneinen, zu lösen würde einem Versuch gleich kommen. Und jeder versuch beinhaltet eine Suche. Jede Suche beinhaltet eine Frage.Und jede eine Frage hat seine Ursache in jedem Ich.

    Warum negieren? Warum die Frage stellen ob ein Ich anwesend ist?

  10. Hallo Kenan,

    Es geht bei der Frage, ob das Ich existiert darum, ob es eine getrennte Einheit gibt, „Ich“ genannt, die denkt, wählt, entscheidet, handelt oder erlebt. Die Identifikation mit dem Gedanken „Ich“ soll durchschaut werden. Natürlich existiert dieser Gedanke – er ist aber substanzlos. Insofern existiert das Ich (als Gedankeninhalt), es existiert aber nicht in dem selben Sinne wie z.B. ein Tisch als etwas, was mit den Sinnen erlebt werden kann.

    Liebe Grüße,
    Christiane

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