Die Wirklichkeit des Körpers

Der Schocker: die Wirklichkeit des Körpers

Ohne Vorankündigung stand ich letzte Woche der Wirklichkeit gegenüber, und zwar der Wirklichkeit des Körpers. Es war ein Schock.

Vielleicht kennst du die Lehrrede von den Vier Pfeilern der Achtsamkeit (Satipatthana-Sutta). Einer dieser Pfeiler ist der Körper, auf den man seine Achtsamkeit richtet. Und zwar nicht nur, indem man einfach wahrnimmt, was an Körperbewusstsein aufsteigt, sondern indem man seine Aufmerksamkeit gezielt auf bestimmte Aspekte des Körpers richtet.

Warnung: schockierender Inhalt! Lies nur weiter, wenn du dir die Wirklichkeit zumuten willst.

 

Betrachtung des Körpers

In der Lehrrede „Die vier Grundlagen der Achtsamkeit“, Satipatthana-Sutta M 10, spricht der Buddha darüber, wie die Achtsamkeitsmeditation genau angewendet wird.

Bei der Achtsamkeit auf den Körper geht es nicht nur darum, achtsam den Körper im Allgemeinen wahrzunehmen, sondern auch die Wirklichkeit des Körpers zu betrachten. Woraus besteht der Körper eigentlich?

„Weiter sodann, ihr Mönche: der Mönch betrachtet sich diesen Körper da von der Sohle bis zum Scheitel, den hautüberzogenen, den unterschiedliches Unreine ausfüllt: ‚Dieser Körper besteht aus Kopfhaaren, Körperhaaren, Nägel, Zähne, Haut, Fleisch, Sehnen, Knochen, Knochenmark, Nieren, Herz, Leber, Zwerchfell, Milz, Lungen, Magen, Eingeweide, Mageninhalt, Kot, (Gehirn), Galle, Schleim, Eiter, Blut, Schweiß, Fett, Tränen, Hautschmiere, Speichel, Rotz, Gelenköl, Urin.‘

Gleichwie etwa, ihr Mönche, wenn da ein Sack, an beiden Enden zugebunden, mit verschiedenem Korne gefüllt wäre, als wie etwa mit Reis, mit Bohnen, mit Sesam, und ein scharfsehender Mann bände ihn auf und untersuchte den Inhalt: ‚Das ist Reis, das sind Bohnen, das ist Sesam‘: ebenso nun auch, ihr Mönche, betrachtet sich der Mönch diesen Körper da von der Sohle bis zum Scheitel, den hautüberzogenen, den unterschiedliches Unreine ausfüllt.“

Der Vergleich mit Reis, Bohnen und Sesam macht deutlich, dass es nicht darum geht, Ekel gegen etwas zu erzeugen, was nicht eklig ist. Die Bestandteile des Körpers sollen „scharf sehend“ wirklichkeitsgemäß betrachtet werden, ohne etwas zu verschleiern.

In der Lehrrede folgt darauf noch die „Leichenfeldbetrachtung“ an. Man stellt sich vor, wie der Körper nach dem Tod durch die verschiedenen Stadien der Verwesung geht.

Das Ziel ist, den Körper ohne jede Beschönigung so zu sehen, wie er wirklich ist. Das Gefühl „ich bin mein Körper“ ist Bestandteil unserer angenommenen Identität, aber in Wirklichkeit ist das gefühlte „Ich“ nirgends zu finden, auch nicht im Körper. Es ist eine Konstruktion, die durch unsere Wahrnehmung entstanden ist. Durch diese Meditation soll die Identifikation mit dem Körper als „Ich“ gelöst werden. Wenn ich den Körper als das sehe, was er wirklich ist, wird mir klar: „Auch das bin ich nicht, das ist nicht mein Selbst, das hat keinen bleibenden Kern.“

Auch die Gier nach allem, was mit dem Körper zu tun hat, wird weniger und löst sich schließlich auf.

Ich habe diese Meditation vor mehr als 15 Jahren auf Retreats kennengelernt. Damals fand ich sie zu radikal. Deshalb habe ich sie zu Hause nie praktiziert.

 

Die Wirklichkeit holt mich ein.

Ohne jede Vorankündigung holte mich die Wirklichkeit letzte Woche ein.

Eigentlich war alles normal. Ich hatte mich schön geschminkt, nette Ohrringe reingemacht und war gerade dabei mich anzuziehen.

Im Vorbeigehen fiel mein Blick in den Spiegel – und mir fuhr der Schrecken in die Knochen.

Ich sah einen Hautbeutel, faltig, auf dem ein Gesicht aufgemalt war, Ohrringe blinkten. Es sah so abstoßend aus, so hässlich. Vollkommen absurd, diesen Hautsack so zu bemalen. Wie krass! Ich war bis ins Mark geschockt.

Und im selben Augenblick wusste ich: das ist die Wirklichkeit. Die Wirklichkeit des Körpers, der ich zwar als Ärztin so oft begegnet bin, der ich aber nie wirklich ins Auge geblickt habe.

 

Die Totenmaske

Mein Anblick im Spiegel ließ eine Opernaufführung in mir wieder lebendig werden, „Tod in Venedig“ von Benjamin Britten. In der Stadt Venedig geht eine Typhusepidemie um. Alle raten dem Protagonisten abzureisen, ja, sie wollen sogar alles für seine Abreise arrangieren.

Aber er kann seine Augen nicht von einem Jungen lassen, der ihm so schön erscheint. Deshalb bleibt er, obwohl immer mehr Menschen sterben. Der Protagonist steckt sich an und wird immer kränker und blasser. Ein Friseur macht ihn „schön“ und schminkt ihn grell. Er soll „gesund“ aussehen – und glaubt es auch, aber es wird seine Totenmaske. Auch er stirbt am Typhus.

Dieses grell geschminkte Gesicht sah ich plötzlich an mir selbst. Und auch dieser „Hautsack“ ist dem Tod geweiht.

Dunkel erinnerte ich mich an eine Stelle in den „Liedern der Nonnen“. Ich schlug es nach.

Eine junge Frau soll heiraten und wehrt sich vehement dagegen.

Nur das nicht! Was entsteht, ist ohne Kern!

Entweder zieh ich hauslos fort oder ich sterbe. Hochzeit halt ich nicht.

Was ist denn dieser faule Leib – unschön, nach Ausfluss riechend, grauses Aas -,

was ist er denn anders als ein Hautsack, der voller Abfall ist und ständig tröpfelt!

(Sumedha, Thig. Lieder der Nonnen, 465-466)

Diese Sicht hatte ich eigentlich schon ziemlich extrem gefunden. Und jetzt sah ich es plötzlich selbst so.

Am liebsten wäre ich diesem „Hautsack“ entflohen. Aber ich stecke ja nun einmal in ihm. Was nun?

 

Meine selbst erfundene Meditation über den Körper

Ich beobachtete mich weiter in den nächsten Tagen. Dabei merkte ich, wie viel Energie ich aufwenden muss, um die Wirklichkeit zu verdecken.

Morgens muss ich meinen Körper mit Wasser und Seife waschen. Sonst fängt er ziemlich schnell an zu stinken. Dann möglichst noch ein Deo, denn der Gestank kommt ja schon nach wenigen Stunden wieder durch. Dann Zähne putzen, denn auch aus dem Mund stinkt es sonst. Was sonst noch alles stinkt, überlasse ich deiner eigenen Beobachtung.

Dann bringe ich den Körper in Form und hänge Kleider darüber, die kaschieren, was ich auch in meiner Normalverfassung nicht schön an ihm finde. Denn ich mache mir Gedanken, ob vielleicht andere die Hässlichkeit sehen könnten.

Was für ein Aufwand!

 

Ist das jetzt Selbsthass?

Vielleicht sagst du jetzt: „Hei, du sollst dich selbst lieben. Du siehst das falsch. Du bist nicht hässlich, wie kommst du darauf?“

Danke! Du wirst es nicht glauben, aber für mich ist die ultimative Selbstliebe, die Wirklichkeit klar zu erkennen und aufzuwachen. Und deswegen kann ich darin keinen Selbsthass sehen. Ich freue mich, denn ich bin meinem Ziel wieder einen Schritt näher gekommen.

Es war allerdings das erste Mal, dass die Wirklichkeit mich so schockiert hat. Daran erkenne ich, wie viel ich mir bisher in Bezug auf meinen Körper vorgemacht habe.

 

Die Lehre behandelt mich

In unserem buddhistischen Kreis gibt es eine Redewendung: “ Erst behandelst du die Lehre – und dann behandelt die Lehre dich“.

Wie wahr! Es kommt mir meistens so vor, ob die Wahrheit mich plötzlich überfiele. Wahrscheinlich ist es aber so, dass die Wahrheit mich nicht überfällt, sondern dass sich durch das schrittweise Gehen des Weges der Nebel lichtet und dann für einen Augenblick verzieht und die Wirklichkeit freigibt.

Und jedes Mal weiss ich sicher, das ist die Wirklichkeit. So, als wenn du morgens aus einem lebhaften Traum aufwachst und sofort weißt: Es war ein Traum.

 

Hast du auch schon mal plötzlich Einblicke in die Wahrheit oder Wirklichkeit bekommen? Wie ist es dir ergangen? Lass uns in den Kommentaren daran teilhaben.

 

Übersetzung Therighata: Fritz Schäfer in „Der Buddha sprach nicht nur für Mönche und Nonnen“.

Bild: Stockfoto-ID:24280721 Copyright: TpaBMa

12 Gedanken zu „Der Schocker: die Wirklichkeit des Körpers

  1. Liebe Christiane,
    interessante Sichtweise. Obwohl ich persönlich nicht davon ausgehen würde, daß es „die Wahrheit“ ist. Es ist ein Aspekt der Körperlichkeit, der sich wohl immer mehr in den Vordergrund drängt, je älter man wird. Ich selbst versuche mich auf die erquicklichereren Aspekte zu konzentrieren in der Annahme so zu einer größeren Zufriedenheit mit mir zu gelangen. Alternativ bin ich auch ein Anhänger der Schönheitschirurgie. Je älter ich werde, um so mehr gibt es zu tun ;-)

  2. Liebe Christiane,
    Deine Sicht auf die Dinge halte ich für komplett überzogen. Die Wirklichkeit ist: Du hast einen Körper, der ist völlig natürlich, hat mit zunehmendem Alter Falten, hat Innereien, ohne die Du nicht leben kannst und manchmal riecht manches, das aus dem Körper kommt, nicht besonders gut. Heute werden wir viel zu weit ab von der ganz natürlichen Realität unseres Körpers erzogen. Die Werbung, die Medien machen einem vor, dass man nur mit einem faltenlosen und „wohlriechenden“ Körper attraktiv ist. Man wird von sich selbst und der Natur entfremdet. Ich schminke mich so gut wie gar nicht. So brauche ich mich nicht vor selbst zu erschrecken, wenn ich mal ungeschminkt bin. Ich trage praktische, manchmal vielleicht sogar schicke Kleidung, nicht um unschöne Stellen zu kaschieren, sondern eigentlich, weil ich hier nicht nackig rumlaufen kann. Ich bin so wie ich bin, fast 60, faltig, übergewichtig, grauhaarig. Damit kann ich leben, das finde ich „normal“. Und bevor Du jetzt erschreckt zurück weichst, weil ich ja stinken könnte, so muss ich gestehen: Ich wasche mich und benutze Deospray. Die Zähne putze ich nicht, weil ich sonst Mundgeruch hätte, sondern einfach aus hygienischen Gründen und weil ich Zahnschmerzen nicht mag.
    Liebe Christine, dein ungeschminktes Gesicht ist keine gruselige Wahrheit, sondern das bist du so wie Du bist und das ist gut so!
    Beste Grüße
    Ulrike

  3. …mir fällt gerade noch ein, daß unser Problem ist, kein Fell zu haben. Meine Hunde sahen auch im fortgeschrittenen Alter noch niedlich auch. Fell kaschiert schön! :-)

  4. Grundsätzlich haben wir die Wahl, vor Dukkha wegzurennen, was noch niemandem gelungen ist, in diesem Fall weder durch Makeup, noch durch Schönheitschirurgie. Oder wir können uns Dukkha zuwenden, es anschauen, untersuchen, analysieren, weise betrachten. Dann verliert Dukkha einen Teil des Schreckens.

    Was Du gemacht hast und was Du daraus gemacht hast, ist wirklich heilsam, Christiane, Glückwunsch zu Deinem Mut.

    Zitat: „… Dann Zähne putzen, denn auch aus dem Mund stinkt es sonst …“

    Wir müssen vorsichtig sein, dass wir alte Glubenssätze nicht mitschleppen, oder aus alten gar neue machen. Unser Geist ist leider so programmiert, das er Dinge in Beziehung setzt, die nichts miteinander zu tun haben. So entstehen all die Illusionen.

    Wer oder was ist für den Gestank im Mund verantwortlich? Ist es so, dass der Mund nach dem Zähneputzen nicht stinkt? Was hat Kamma-Vipāka damit zu tun?

  5. Liebe Christiane,

    ich beglückwünsche Dich zu Deiner persönlichen Begegnung mit einem der „Götterboten“ und den wirklichkeitsgemäßen Betrachtungen.

    Im Übrigen ist Ambapali, eine reiche und schöne Kurtisane, die zur Zeit des Buddha lebte, bei dieser Erkenntnis nicht weiter bemüht, die Zeichen des Verfalls zu kaschieren, sondern hat Befreiung erlangt:

    (Quelle: Palikanon.com)
    Meine Augen glänzten, prächtig wie Juwelen,
    so schwarz und groß. Jetzt, gealtert,
    sehen sie nicht mehr schön aus.
    Nicht anders sagt es der Erwachte.
    Früher waren meine Hände schön,
    verziert mit goldenen Ringen.
    Durch’s Alter gleichen sie jetzt Zwiebeln und Rettichen.
    Nicht anders sagt es der Erwachte.
    Früher war mein Körper schön, wie ein auf Hochglanz
    poliertes Goldblatt. Nun ist er mit vielen Runzeln bedeckt.
    Nicht anders sagt es der Erwachte.
    Das war dieser Körper. Nun ist er altersschwach, viele
    Schmerzen wohnen ihm inne, ein altes Haus von dem der
    Putz abfällt. Nicht anders sagt es der Erwachte.

    Auch nachzulesen in THERĪGĀTHĀ (Vers 252-365)

  6. Liebe Christiane,
    weißt du, was das Gute an dieser Erkenntnis ist: ich habe das Gefühl, als ob eine schwere Last von mir abgefallen sei, die ich vorher getragen habe. Ich fühle mich viel unbeschwerter.

    Alles Liebe, Christiane

  7. Liebe Ulrike,
    ich danke dir, dass du mich beruhigen möchtest.

    Im Nachhinein merke ich, dass der Schock sehr heilsam war und ich mich buchstäblich er-leichtert fühle. Ein schweres Gewicht ist von mir gefallen und der Geschmack dieses Erlebnisses ist der Geschmack der Erlösung.

    Liebe Grüße, Christiane

  8. Ehrwürdiger Chantasaro,
    danke für die ermutigenden Worte! Jetzt ist ein wenig Zeit vergangen und ich merke, dass mir mit dieser Erkenntnis ein schweres Gewicht von den Schultern gerutscht ist.

    Es stimmt, der Satz mit dem Zähneputzen ist kausal geschrieben, wo es eigentlich keine Kausalität gibt. Wie wichtig doch die „feinste Genauigkeit“ ist.

    Herzliche Grüße, Christiane

  9. Lieber Baddheraka,
    danke für dieses wunderbare Lied der Ambapali :-).

    Die Hilfe der Götterboten ist wirklich unschätzbar.

    Herzliche Grüße,
    Christiane

  10. Hallo Christiane!

    An mir selbst habe ich diese Erfahrung so noch nicht gemacht.

    Aber ich weiß noch, dass ich meine Oma ansah, als sie endlich sterben wollte und im Bett lag, und darauf gewartet hat. Da dachte ich, dass sie eigentlich ja schon tot war. Ihr Herz schlug noch, manchmal hat sie die Augen aufgemacht. Sie hat mich noch verstanden, genickt oder den Kopf geschüttelt. Aber eigentlich war sie schon ganz weit weg.

    Am gleichen Tag ging ich durch eine Einkaufspassage und sah die mir entgegenkommenden Menschen plötzlich mit anderen Augen. Irgendwie waren sie alle schon tot. Irgendwie sind wir alle schon tot. Wir sind schon tot, wenn wir geboren werden. Es ist nur eine Frage der Zeit.

    Als ich das meinen Mann erzählt habe, hat der wohl gedacht ich spinne jetzt total. Er fand das sehr deprimierend. Bin ich jetzt depressiv?

    Nein. Ich fand diese Erfahrung sehr ermutigend und irgenwie auch schön. Ich werde sterben, alle werden sterben. Die meisten sind schon tot.

    Was für ein kostbares Geschenk dieses Leben doch ist!

  11. Liebe Steffi,
    ich danke dir sehr, dass du deine tiefe, sehr persönliche Erfahrung hier mit uns teilst.

    Wie mutig von dir, der Tatsache des Todes ins Auge zu blicken und nicht in den üblichen Lebensrausch zu flüchten!

    Mir geht es auch so, dass mich die Erfahrung der Wirklichkeit (nach dem ersten Schock) zutiefst erleichtert und das Leben dadurch einen neuen Wert erhält. Dadurch wird auch klar, was für mich in dieser kurzen Lebensspanne wichtig ist.

    Alles Liebe,
    Christiane

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